Die Strecke von Onega in die Gebietshauptstadt (Oblast) Archangelsk beträgt ca. 200 Kilometer. Das Roadbook gibt eine genaue Wegführung vor und wir werden mit einer kaum befahrenen Wintermärchenlandschaft belohnt. Da wir noch tanken waren, sind wir die Letzten auf der Strecke. Mir kommt in den Sinn, dass sich dieser Weg, weil so märchenhaft und ruhig, eigentlich super für einen Test unserer Drohne eignen müsste. Gesagt, getan. Herbert hält an, wir suchen die Drohne raus, bauen sie auf und lassen sie von meiner Hand aus starten.
Da ich das Ding noch nicht steuern kann, muss Herbert auf den Beifahrersitz rutschen, die Drohne navigieren und ich fahre zur Abwechslung mal. Doch weit komme ich nicht. Nach gut 100 Metern ruft Herby nur „Stopp, ich sehe die Drohne nicht mehr“. So ein Mist, ich halte ihm auch nicht schnell genug an, nun ja, schließlich fahre ich auf Eis. Wir steigen aus, doch die Drohne ist weg. Super. Rechst und links der Straße Schneeberge und Wald, wie wollen wir dieses Miniding finden? Wir wissen nicht einmal, wo wir suchen sollen. Wir laufen hin und her. Ich halte für Herbert die Fernsteuerung und sehe mir das Bild auf dem Bildschirm genauer an, dabei kommt mir eine Idee: Es könnte sein, dass auf dem Bildschirm nicht nur Tannenzweige, sondern auch die Straße zu sehen ist. Herby beobachtet das Bild, während ich mit dem Womo rückwärts fahre und tatsächlich ist unser Haus auf Rädern irgendwann auf dem Bildschirm zu sehen. Hui, das grenzt den Suchbereich erheblich ein und wir können schon mal die Straßenseite ermitteln. Nun wechseln wir die Rollen. Ich übernehme den Bildschirm und Herbert darf in den Schnee krabbeln. Kalt, warm wärmer, stopp weiter nach links und wieder zurück ... das Spiel dauert eine Weile, bis ich Herbert bitte, nun an jedem Baum zu rütteln und siehe da irgendwann wackelte der Bildschirm und so wussten wir in welcher Fichte unsere Drohne thronte. Was für ein Glück.
So einfach runter schütteln ließ sie sich leider nicht, aber wir sind ja gut beladen und haben eine lange, zusammenschiebbare Leiter dabei. Ich krame die Leiter raus und reiche sie Herbert rüber. Er stapft zurück zu besagtem Baum und klettert soweit wie möglich hoch. Nun lässt sich die Drohne runter schütteln und landet im weichen Schnee. Was für eine Freude. Ok, das mit dem Fliegen der Drohne müssen wir wohl doch erst noch einmal in Ruhe üben.
Kurz vor Archangelsk liegt die kleine Stadt Sewerodwinsk. Diese Stadt ist Sperrgebiet und darf von uns auf keinen Fall befahren werden. Unsere Reiseleitung will ganz auf Nummer sicher gehen und so sammeln wir uns vor der Stadtumfahrung an einer Koordinate. In Kolonne geht es nun die restlichen Kilometer zu unserem Stellplatz direkt am Ufer der Nördlichen Dwina. Pünktlich reihen wir uns alle am Ufer auf und werden schnell wieder zum Anziehungspunkt für die Einheimischen. Gegen 16 Uhr kommt sogar das russische Fernsehen filmt unsere Autos und interview Kostya.
Für den nächsten Morgen hat sich ein weiteres Kamerateam angemeldet und macht ebenfalls nochmal Aufnahmen. Anschließend ist ein Stadtrundgang angekündigt. Nun aus dem Rundgang wird eine Rundfahrt von Denkmal zu Denkmal. Kann sein, dass wir Kulturbanausen sind und nicht den nötigen sittlichen Ernst für die gezeigten Skulpturen zeigen, doch für den zweiten Teil am Nachmittag mit Museumsbesuch melden wir uns gleich wieder ab. Meine ungeteilte Aufmerksamkeit hat die freundliche Stadtführerin erst, als sie von der aktuellen Problematik mit dem milden Winter spricht. Archangelsk liegt an einem riesigen Mündungsgebiet. Die Nördliche Dwina mündet in das Weiße Meer, wobei die Stadt selbst nicht direkt am Weißen Meer liegt. Hier herrschen gänzlich andere Dimensionen. Allein das Mündungsgebiet ist ca. 70 Kilometer breit und 100 Kilometer lang. Das gesamte Gebiet ist voller Inseln, die auch bewohnt sind. Es gibt ganze zwei Brücken in Archangelsk über die Nördliche Dwina, alles andere muss mit Schiffen angefahren werden oder im Winter über das Eis. Der milde Winter lässt die eigentlich für die Versorgung der Inseln dringend notwendigen Eisbrücken nicht zu. Wenn überhaupt, ist der Fluss nur zu Fuß oder mit dem Motorschlitten befahrbar.
Bis vor zwei Jahren hatte man sogar Schienen im Winter auf dem Eis verlegt, um Waren mit einem Zug transportieren zu können. Daran war in diesem Jahr nicht zu denken.
Wie sich herausstellte, waren einige von uns nicht so recht begeistert von der Stadtbesichtigung und auch die Nachmittagsplanung war nicht der Renner, da nämlich alle Reiseteilnehmer abgesagt haben. Kurz stehen wir draußen beieinander und sprechen darüber, was uns mehr interessieren würde, nämlich aktuelle Themen und Menschen und weniger Jahreszahlen längst verstorbener Persönlichkeiten. Piotr, unser Dolmetscher, organisiert tatsächlich für den Abend ein Treffen in einer Kneipe mit einem jungen Mann, der sich für benachteiligte Menschen in Archangelsk einsetzt und sich um sie kümmert.
Gegen sechs treffen wir in einem Pub Roman. Ich schätze ihn auf Anfang 30. Gleich zu Beginn unseres Treffens bedankt er sich für unser Interesse und zückt für jeden ein kleines Geschenk aus seinem Rucksack. Kleine Kekse, hübsch verziert und für die Gruppe zusammen noch einen Glasrahmen mit einem Ikonenbildchen seines Lieblingsheiligen. Wer hat hier eigentlich um das Treffen gebeten und sollte wen vielleicht beschenken??? Nun, Roman wird im gegenzug zum Essen eingeladen und bestellt sich erfreut eine Suppe und Fisch.
Offen berichtet er aus seinem Leben. Das Frage-Antwortspiel beginnt. Roman ist gehbehindert und erhält eine staatliche Behindertenrente von rund 9.000 Rubel (rund 120 €). Außerdem arbeitet er für die Kirche und bekommt dafür nochmal 10.000 Rubel (rund 135 €). Insgesamt hat er monatlich also rund 255 € zur Verfügung. Still schlucken wir ein erstes mal. Beim Einkaufen in den Supermärkten kann ich jetzt nicht sagen, dass hier alles ausgesprochen billig sei. Aufgrund seiner Behinderung kann er ausschließlich nur mit Gehhilfen laufen.
Irgendwann ist Roman bewußt geworden, dass es viele Menschen gibt, denen es viel schlechter geht als ihm. Der Kreis der Hilfsbedürftigen ist nicht gerade klein. Kinderreiche Familien, Kranke in Hospizen, Alleinerziehende, Obdachlose. Anfangs hat er sich alleine um Einzelne gekümmert und was er tat, von seiner Rente finanziert. Inzwischen sind sie eine größere Gruppe, die sich dieser Aktion verschrieben hat und Spenden sammelt, um Hilfsbedürftige zu unterstützen. Aber ganz wichtig ist, einfach nur für diese Menschen da zu sein. Die staatlichen Unterstützungen sind gering und nicht unbedingt dauerhaft. Auch von der Kirche kommt kein Geld. Auf meine Frage, was er am meisten benötige, habe ich eigentlich eine „materielle“ Antwort erwartet. Doch was ihm am meisten fehlt ist Ehrlichkeit der Behörden mit der Tatsache, dass es hilfsbedürftige Menschen gibt und wie viele.
Schnell sind die zwei anberaumten Stunden vorbei und wir wollen seine Zeit nicht überstrapazieren. Es ist ein gegenseitiges Erzählen. Roman hat zwischendurch immer wieder Fragen an uns, wie die Situation für Menschen mit einer Behinderung in Deutschland sei, uns so berichten wir unsererseits, was wir so wissen.