Wir stehen unmittelbar am Ufer des Flüsschens Pinega auf einem Hotelparkplatz. Morgens gegen 8/9 Uhr bekommen wir Besuch. So ganz richtig habe ich es gar nicht mitbekommen. Herbert und ich haben heute frei, da der Tagesausflug zu den Nenzen, einem indigenen Nomadenvolk, mit Hund nicht so ganz geeignet ist und wir Paula nicht den ganzen Tag alleine im Womo lassen wollen.
Faul sitze ich mit meiner Teetasse auf dem Sofa und betrachte das Treiben vor unserer Tür. Zwei ältere Damen scheinen sich mit den schon aktiven Wohnmobilisten zu unterhalten. Ich bin mehr mit mir und dem Wachwerden beschäftigt, als dass ich den Besuch wahrnehme. Am späten Vormittag dann kommt von der Reiseleitung die Frage, ob wir am Besuch zweier Damen interessiert seien, die über ihr Leben erzählen würden. Inzwischen bin ich wach, was für eine Frage, wir sind dabei.
Sophia, Jahrgang 1932 und Walentina Ende der 40er/Anfang der 50er geboren, zwei Schwestern, haben gehört, dass Deutsche in der Nähe sind und sich aufgemacht uns zu besuchen und uns zu sich nach Hause einzuladen.
Ich zaubere aus meinen Beständen eine Packung Mon Cherie als Gastgeschenk und gegen 17:30 Uhr geht es mit dem Bus in das ca. 10 Kilometer entfernte Dorf/Städtchen Pinega. Ganze 13 Personen, keine gerade kleine Gesellschaft, die da anrückt. Im Ort gibt es einen Supermarkt, dort kaufen unsere Guides noch schnell ein paar Dankesgeschenke ein: Tee, Gebäck und reichlich Obst.
Der Busfahrer bringt uns vor die Haustür, nicht zu verfehlen, da Sophia bereits winkend auf der Straße steht. Sie freut sich, ist stolz, dass wir Ihre Einladung angenommen haben. Drinnen erwartet uns ihre Schwester Walentina. Erst gibt es einen Vorraum in dem Holz gelagert ist, dann kommt ein Flur. Hier heißt es Jacken und Schuhe aus und hinein in die gute Stube. Der kleine Raum ist randvoll gestellt. Alle verfügbaren Sessel und Stühle haben die Frauen um den Wohnzimmertisch gereiht. Es gibt Tee und Gebäck. Die Doppelhaushälfte hat zwei Zimmer, Küche Bad. Strom ja, Toilette auch aber kein fließend Wasser. Durch die dünne Wand dringen die Geräusche aus der Nachbarhaushälfte. Es ist Walentinas Haus, Sophia wohnt näher am Fluss und ihr Häuschen wird gerade renoviert.
Sophias Eltern stammen aus Jena. Sie selber ist 1932 im ehemaligen Leningrad geboren. Sie hat noch Verwandtschaft in Thüringen. Ein paar Worte spricht sie noch Deutsch. Ihr Vater hatte als Ingenieur bei Zeiss gearbeitet und war 1930 nach Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, beordert worden. Er sollte dort für Zeiss in einem Werk arbeiten. Die Mutter blieb anfänglich noch in Jena, bevor auch sie ein Jahr später nach Leningrad übersiedelte.
1937, Sophia war inzwischen geboren und fünf Jahre alt, holten die Kommunisten in den frühen Morgenstunden den Vater ab. Sophia schlief noch und bekam von alledem nichts mit. Dürftig bekleidet ging er mit und versprach seiner Frau das Missverständnis schnell aufzuklären und nach Hause zu kommen, doch der Vater kehrte nie wieder heim.
Nach fünf Tagen erhielt die Mutter die Aufforderung sich mit Ihrer Tochter binnen 24 Stunden am Bahnhof im heutigen St. Petersburg einzufinden. In Güterwaggons wurden die Beiden mit vielen anderen in die Oblast Archangelsk deportiert. Angeblich würde ihr Mann dort auf sie warten. Aber da war der Vater schon längst Tod, erschossen von den Bolschewiken, was man ihr erst bei der Ankunft in Archangelsk mitteilte. Das Wort „Bolschewiken“ spukt Sophia regelrecht aus. Sie selber hat von Ihrer Mutter die wahre Geschichte erst als erwachsene Frau erfahren. Zu groß war die Sorge, dass die kleine Tochter in falscher Umgebung etwas Falsches sagt. Fortan waren Mutter und Tochter auf sich gestellt. Die kleine Sophia, zweisprachig aufgewachsen, half der Mutter beim Übersetzen.
Eine Antwort auf die Frage nach dem Warum hat sie nie wirklich gefunden. Weil er Deutscher war? Weil er zu offen im Werk die mangelnde Qualität der Arbeit und die Arbeitsbedingungen kritisiert hat? Vermutungen, keine Gewissheit. Das Schlimmste für ihre Mutter war, so erzählt uns Sophia, dass man ihr erst gesagt hat, ihr Mann würde in Archangelsk auf sie warten, obgleich sie ihn vermutlich schon am Tag seiner Verhaftung erschossen hatten. Im Jahr 2014 hat Sophias Onkel aus Thüringen bei seinen Recherchen ermittelt, dass sein Bruder in St. Petersburg beerdigt ist und es dort auch eine Grabstelle gibt. Doch der Weg dorthin war der heute 88-jährigen zu beschwerlich, sie hat die Grabstelle noch nicht besucht.
Während Sophia erzählt steht ihre Schwester die meiste Zeit hinter ihr oder sitzt neben ihr, hilft, wenn Namen fehlen oder die Erinnerung sortiert werden muss. Sophia derweil lacht auch beim Erzählen der traurigsten Dinge und wirkt unglaublich kämpferisch. Fotos machen die Runde. Wir stellen viele Fragen, sie antwortet fleißig, unser Dolmetscher hat viel zu tun.
Mutter und Tochter heiraten beide Seemänner, die sie in Archangelsk kennen gelernt haben und bleiben in dem seinerzeit zugewiesenen Ort Pinega hängen. Sophia bekommt noch eine kleine Schwester, Walentina und gründet in den 50er Jahren ihre eigene kleine Familie. Gerne hätte sie aus Ihren Deutschkenntnissen mehr gemacht und Deutsch studiert, doch man hatte ihr sehr schnell klar gemacht, dass sie dazu als Tochter eines Kriegsfeindes keine passenden Voraussetzungen mitbringe. Nach dem frühen Tod der Mutter in den 50er Jahren verblassten ihre Deutschkenntnisse. Restliche Kenntnisse streut sie in ihre Erzählungen ein und freut sich als wir alle lachen, nachdem sie „Donnerwetter“ in die Runde ruft.
Beide Frauen sind inzwischen Witwen und müssen das harte Leben im Norden Russlands alleine meistern. Die Kinder und Enkelkinder leben im rund 150 Kilometer entfernten Archangelsk und kommen nur selten und wenn, dann im Sommer vorbei. Täglich holen die Frauen morgens 30/35 Liter Wasser von der Wasserstelle und sollte diese gefroren sein, na dann gibt es ja immer noch den Fluss, meinte Sophia. Holz kann sie auch selber hacken aber das macht sie nur noch bei kleinen Scheiten und Schnee schippen gehört ebenfalls zum täglichen Fitnessprogramm. Trinken wir auf ihre Gesundheit: за здоровый