Zu Besuch auf der "Angeli reindeer-farm"
Inzwischen sitzen wir im kuschelig warmen Wohnmobil in Alta auf dem Gelände der Marina. Ich habe wieder Muße, Berichte zu schreiben und muss einiges nachholen. Es ist absolut ruhig hier, nur wenige Menschen, einzig der Wind pfeift um unser Auto. Die Gasvorräte sind aufgefüllt, die Außentemperaturen auf ein verträgliches Maß gestiegen. Alles was bis -20 Grad geht, tangiert uns nicht sonderlich.
In Inari hatte unsere Bypass-Lösung geholfen, nach zwei Versuchen ist der Motor wieder angesprungen. Wir haben an der Tankstelle noch Wasser aufgefüllt und sind eine Runde um das gegenüber liegende Gebäude, dem Kulturhaus der Sami spaziert. Die Architektur aus Holz und viel Glas gefällt uns ausgesprochen gut.
Um 15 Uhr sind wir mit Anne, von „Angeli reindeer farm“ verabredet. Wir wollten gerne eine Rentierfarm besuchen und haben vorgestern zwei Adressen aus unserem Reiseführer abtelefoniert. Der eine war für die ganze Woche ausgebucht, der andere nimmt nur Gruppenbuchungen an, gab uns aber die Kontaktdaten von Anne. Volltreffer!
Anne bietet auf ihrer Homepage zwei Varianten zur Buchung an: eine Stunde Besuch der Rentierfarm oder zwei Stunden für Rentierfarm und Einblick in die Kultur der Samen und beides immer nur für einen Interessenten, also keine Gruppen. Wir hatten uns für die zweite Variante entschieden und haben so einen ausgesprochen interessanten Nachmittag verbracht.
Anne und ihr Mann Janne leben mit Ihren drei Kindern mitten im Wald am Ufer eines Sees ca. 10 Kilometer westlich von Inari. Sie gehören zum Kulturkreis der Sami und sind Rentierzüchter aus Leidenschaft. Als wir auf den Hof fahren, erwartet uns bereits eine ganze Meute von Hunden und begrüßt uns freudig und lautstark. Paula bleibt besser in ihrer Höhle.
Anne hat den Hof illuminiert. Ich weiß nicht, ob für uns oder ob sie immer überall Kerzen brennen hat aber es sieht wunderschön aus. Wir stellen einander kurz vor und bekommen auch sogleich einen Holzeimer gefüllt mit Flechten in die Hände gedrückt. Gemeinsam geht es in ein Gehege, in dem ein paar Rentiere begierig auf das Naschwerk warten. Sie kommen schnurstracks auf uns zu, wissen ganz genau, was sie erwartet. Anne gibt uns ein paar Sicherheitshinweise bzgl. der teils gewaltigen Gehörne der Tiere und schon beginnt die kleine Fütterungsaktion.
Nachdem die Eimer geleert sind, verlieren die Tiere das Interesse an uns und sie dürfen das Gehege verlassen. Wir beginnen jede Menge Fragen nach den Tieren und dem Leben eines Rentierzüchters zu stellen. Wir sind so mit Fragen und Zuhören beschäftigt, dass wir kaum Fotos machen. In einem weiteren kleinen Holzgehege ist ein einzelnes Rentier abgesperrt. Anne erzählt, dass es eines der Leittiere sei, dass einen GPS-Sender am Hals trage, dessen Batterie aber leer sei und sie aktuell auf ihren Mann warte, der eine neue Batterie besorgt habe. Als Janne kurze Zeit später kommt, schauen wir zu, wie beide das Tier mit aller Kraft halten müssen und das Halsband austauschen. Danach darf er oder sie, ich weiß es nicht mehr, raus zu seinen/ihren Artgenossen. Bei den Rentieren tragen sowohl die männlichen als auch die weiblichen Tiere Geweihe.
Anne und Ihre Familie besitzen mehrere Hundert Rentiere. Jedes Rentier wird gezählt und ist markiert. Es gibt keine „wilden“ Rentiere, somit auch keine Rentierjagd. Jedes Tier gehört jemandem. Die Tiere laufen das ganze Jahr frei umher, bis sie im November/Dezember zusammen getrieben werden. Die Leittiere mit GPS-Sender zeigen wo sich die einzelnen Gruppen aufhalten und werden im Spätherbst „eingesammelt“. Dann ist Schlachtezeit und die männlichen Tiere werden verarbeitet, während die weiblichen Artgenossen für die Zucht bleiben. Das ist sicher stark vereinfacht beschrieben aber hier zeigte sich einfach die Grenze meiner Sprachkenntnisse und so manche Frage ergibt sich auch erst jetzt beim Schreiben. Die Masse der Tiere wird nur ca. ein gutes halbes Jahr alt. Im Mai geboren und im Winter geschlachtet. Klingt und ist hart aber sie haben ein freies Leben und wenn ich Fleisch essen möchte, dann sollte es auf diese Weise gezüchtetes sein. Die ganze Arbeit erledigen Anne und Janne selber. Auf dem Hof ihrer Schwiegereltern, rund 20 Kilometer entfernt, haben sie eine Schlachterei und ein Geschäft. Einzig die Tiere, die an Restaurants verkauft werden müssen mit einer EU-Kennzeichnung versehen und in zentralen Schlachthäusern verarbeitet werden.
Alle Tiere bekommen nach ihrer Geburt eine Kennzeichnung (Foto unten links) in ihr Ohr. Diese Kennzeichnung zeigt, wem dieses Tier gehört. Jeder Rentierbesitzer hat sein eigenes Zeichen und behält sie sein Leben lang. Man kann diese Kennzeichnung verkaufen oder vererben und nur so zu neuen Herden kommen. Annes Schwiegervater hat vor langer Zeit einer älteren Frau die Kennzeichnung abgekauft und später dann seiner Enkeltochter zur Geburt geschenkt. Anne und Janne haben aus diesem Grund Ihre Tochter nach dieser Frau benannt und sie auf den Namen Siiri getauft. Auf diese Weise gehören der heute 12 jährigen bereits eigene Rentiere.
Wir sitzen inzwischen im gemütlichen Haus von Anne und Janne und wärmen unsere Hände an einer heißen Tasse Tee. Ihr Konzept ist so gänzlich anders als diese vielen typischen Touriprogramme. Sie bieten Fremden Einsicht in ihr ganz normales Leben, öffnen ihr privates Haus, laden ein zu Tee oder Café in ihre eigene Küche. Nichts ist inszeniert. Überall hängen Familienbilder oder Kinderzeichnungen, der Kühlschrank ist wie bei uns zu Hause über und über mit Fotos und Magneten beklebt. In einer kleinen Ecke hat Anne Dinge ausgestellt, die sie hier und im Sami-Museum in Inari zum Verkauf anbietet, doch nichts wird aufgedrängt.
Wir unterhalten uns, erfahren, was Anne alles aus den Rentieren macht, wie sie selber die Felle bearbeitet und das Leder für ihre handgefertigten Beutel herstellt. Die Felle werden zum Trocknen an die Zäune genagelt, das war uns schon bei der Anfahrt auf den Hof aufgefallen. Um das Leder zu gewinnen, also das Haarkleid zu entfernen, werden die Felle mit der Haarseite nach unten in den Schnee gelegt und mit Schnee bedeckt. Nach der Schneeschmelze im Frühjahr fällt das Haar von alleine ab. Anschließend erstellt sie einen Sud aus Baumrinde und legt das Leder darin ein.
Anne ist auch passionierte Anglerin und fängt vorrangig im Sommer viele Fische, die sie einfriert und bei Bedarf zubereitet. Eisangeln macht sie erst im Mai, wenn es schon ein wenig wärmer ist draußen. Außerdem zieht sie alle möglichen Pflanzen in ihrer Küche vor, die dann mehr einem Dschungel gleicht und nutzt den kurzen aber sehr warmen Sommer um Zucchini, Paprika, Brokkoli, Möhren und alles mögliche zu ernten und einzufrieren. Auch die Fischhaut verarbeitet sie zu Leder. Ich bin sehr beeindruckt von ihrer Vielseitigkeit.
Das Grundstück der Familie am See ist ein Hektar groß. Zudem gehören Ihnen damit auch Fischerei- und Nutzungsrechte am See bis zu einer Tiefe (in der Fläche) von 60 Metern. Ihr neu gebautes Holzhaus hat in Küche und Wohnbereich große Fenster und wird über eine Erdwärmeheizung beheizt. Die Schläuche für die „Erdwärme“ liegen am Grund des Sees, was noch um einiges effektiver sein soll, als bei klassischer Verlegung im Erdboden.
Im Eingangsbereich des Hauses steht ein gut gefülltes Schuhregal und wie soll es anders sein bei einer fünfköpfigen Familie. Dort stehen wasserdichte Boots aus Plastik neben traditionell aus Rentierfellen genähten Stiefeln. Ab 5 Grad müssten sie die Plastikboots tragen, ansonsten geht nichts über die Fellstiefel, meint Anne. Sie fertigt die Schuhe selber an. Außen mit Rentierfell und innen ein Innenschuh aus Filz. Dazu Wollsocken und man kann den ganzen Tag über draußen verbringen ohne kalte Füße zu bekommen. Zu gerne würde ich das testen ...
Eine Stunde unterhalten wir uns noch über ihr Leben als Sami. Ihre Kinder gehen auf eine Samischule bzw. Samikindergarten, doch es hat viele Kämpfe gebraucht bis die finnische Regierung bereit war, dies zu finanzieren, auch die Schulbücher ins Samische zu übersetzen. Vieles müssen sie auch heute noch aus eigener Tasche bezahlen. Es gibt nicht nur „Sami“ als eigene Sprache, sondern insgesamt zehn (?) verschiedene samische Sprachen und wer eine dieser Sprachen spricht, kann noch lange nicht eine der anderen verstehen, so unterschiedlich sind die Sprachen. Hier in der Gegend von Inari wird Inari-Sami gesprochen und so auch im Haus von Anne und Janne. Anne hat die Kinderbücher ihrer Kinder übersetzt und diese Übersetzungen hineingeklebt.
Lange Zeit haben die Regierungen die Sprache der Samen und ihre Kultur verboten. In den 40er Jahren hat man sogar den Samen die Kinder „weggenommen“ und zwangsweise in Internate gesteckt, um zu unterbinden, dass sie nach alter Tradition erzogen werden. Heute hat sich das zwar geändert, doch der Erhalt ihrer Lebensform, insbesondere als Rentierzüchter, sei permanent bedroht. Auf der gegenüberliegenden Seite des Sees hat man in den 90er Jahren den Wald abgeholzt. Die Folge ist, dass in diesem Gebiet die Rentiere kein Futter mehr für sich finden. Aktuell hat die Regierung im Gebiet eines Sees, der auch für die Trinkwasserversorgung genutzt wird, einer kanadischen Mienengesellschaft eine Lizenz zum Abbau von Bodenschätzen erteilt. Mit diesen und ähnlichen Sorgen hat Anna ihren täglichen Kampf.
Ihren Kindern werden sie es freistellen, ein Leben als Rentierzüchter oder ein gänzlich anderes Leben zu führen. Sie sollen selber entscheiden, wohin ihre Reise geht. Anne und Janne sind auf jeden Fall mit ganzem Herzen in ihrem Leben als Rentierzüchter zuhause. Urlaub oder verreisen ist für sie kein Bedürfnis und wenn doch, dann geht es mit dem Zelt für ein paar Tage nach Norwegen.
Auch dies war wieder ein Platz, den ich nur ungerne verlasse. Es gäbe noch so unendlich viel zu erfahren, doch unsere Zeit ist um. Anne muss die Kinder abholen und anschließend geht es zur Schwiegermutter, sie hat für alle gekocht, was immer eine große Erleichterung ist. Kommt mir irgendwie bekannt vor. Wir bezahlen die gebuchten Stunden auch hier ganz easy mit dem Handy und machen uns auf den Weg Richtung Alta.