Weißmeer-Ostsee-Kanal
Seit einer Woche fahren wir so gut wie ausschließlich durch Wälder. Wie Bleistifte ragen die Birken und Fichten gen Himmel. Holzwirtschaft ist auch der Arbeitgeber des Nordens. Wie kann man hier leben, eine Frage, die unwillkürlich immer wieder in uns auftaucht. Der kurze, sicherlich wunderschöne karelische Sommer kann nicht der Grund für das Ertragen von einem dreiviertel Jahr teils harten Winters sein. Wobei der Winter 2019/2020 Geschichte schreibt, er ist so mild wie noch nie, sagen die Einheimischen. Wir müssen lange Umwege in Kauf nehmen, da die im Winter üblichen Verkehrswege über zugefrorene Flüsse und Seen nicht mehr frei gegeben sind, so sehr taut es hier. Viele Flüsse haben keine Brücken. Im Sommer geht es via Fähren und im Winter eben über das Eis, nicht so in diesem Jahr.
Ich verliere den Überblick. Wo waren wir gestern? Wie hieß das Dorf, der See, der Nationalpark nochmal? Unbekannte Namen in Buchstaben, die mir schwer fallen zu lesen. Auch wenn ich das kyrillische Alphabet gelernt habe, lese ich doch eher wie ein Erstklässler in Silben statt in ganzer Worterfassung. Eine Lektion Babbel steht täglich auf dem Programm. Hinzu kommt die Kehrseite einer geführten Tour: alles geht ruckzuck, kein Verweilen an einem Ort ohne Programm. Eine Fülle von Informationen und Eindrücken, die verdaut und verarbeitet werden will, bevor die nächste Schicht oben drauf kommt.
Neben fahren, fahren und nochmals fahren stehen Besichtigungen auf dem Programm. Alles nur Angebote, keiner muss, jeder kann. Wir lassen nur ungern etwas aus, denn, wenn wir erst einmal wieder alleine unterwegs sind, müssen wir uns alles selber aus Reiseführern erarbeiten. Kein Roadbook mehr, das da am Abend per WhatsApp zu uns kommt und uns mit Infos, Sehenswürdigkeiten, Stellplätzen, Zielen, Tankstellen für Diesel, Gas oder Wasser informiert. Keinen Übernachtungsplatz suchen zu müssen, das entspannt, auch beziehungstechnisch, wie ein jeder Wohnmobilist weiß ;-).
In Sandarmokh besichtigen wir eine Gedenkstätte für die rund 100.000 Menschen, die dem Bau des Weißmeer-Ostseekanals zum Opfer gefallen sind. Auch der Russe hat seine Vernichtungslager akribisch dokumentiert und so hat man Massengräber gefunden, in denen man in den 30er Jahren unliebsame Mitbürger erst beim Bau des Kanals verheizt und anschließend in den Massengräbern verscharrt hat. Unvorstellbar wie es vor rund 90 Jahren gewesen sein muss, als eine Schaufel weit mehr wert war, als ein Menschenleben. Der Bau des 37 km langen Kanals (Gesamtlänge des Wasserweges zwischen dem Weißen Meer und St. Petersburg 227 km) erfolgte durch die bloßen Hände der Gefangenen aus den Gulag-Lagersystemen der Geheimpolizei. Wärmende Kleidung? Fehlanzeige und das bei rund minus dreißig Grad. Der Einsatz von Pferden für die Bauarbeiten wurde unterlassen, da man mit den Tieren mehr Mitleid hatte als mit den Menschen.
Wir stehen hier im kalten Wind bei leichten Minusgraden, gut eingepackt in unserer modernen Thermobekleidung und lauschen den Ausführungen unserer Reiseführerin. Plastikblumen, Fotos und Fähnchen sind Zeugnisse aktiver Erinnerungskultur und machen betroffen. Die Opfer bekommen Gesichter. Väter, Mütter, Schwestern, Brüder, Söhne, Töchter.... Kostya empfiehlt uns ein Buch der Schriftstellerin und Gulag-Überlebenden Jewgenija Ginsburg, doch ich vermute, bei allem , was er erzählt, es ist harte Kost... Ich weiß nicht, ob ich es schaffen würde, das Buch zu lesen??? Durchgefroren balancieren wir über das Eis zu unseren Häusern auf Rädern und machen uns nachdenklich auf unseren weiteren Weg.